Corona erfordert die emotionale Selbstregulation von Angst und Wut

Krisenzeiten bieten auch viele Chancen – das gilt individuell und kollektiv. Derzeit leiden viele Menschen unter Angst. Die Krankheit ist eine Bedrohung und auch die berufliche und finanzielle Situation ist für viele Menschen eine Quelle von Sorgen. Die Einschränkungen, die notwendig sind, damit sich das Virus nicht unkontrolliert ausbreiten kann, erzeugen bei manchen Menschen auch Wut. Gebote wie Abstandhalten und Masken-Pflicht sind allerdings meist nicht die wirklichen Gründe dafür, sondern lediglich Auslöser, auch Trigger genannt. Die Gefahr liegt darin, dass unreflektierte Emotionen gesellschaftliche Auswirkungen haben und Spaltung und Konfrontationen verursachen können. Statt gemeinsam die Chancen zu nutzen, geht dann leider viel Energie durch Konflikte verloren. Um unter die Oberfläche dieser Themen zu schauen und Lösungsansätze zu erarbeiten, geht es im Interview mit der Psychoanalytikerin und Körpertherapeutin Christina Sogl radikal in die Tiefe.

Was ist aus Ihrer Sicht in Corona-Zeiten besonders wichtig?

Die emotionale Selbstregulation von Angst und Wut. Die reale und existenzielle kollektive Bedrohung – egal ob über den unmittelbaren Verlust des Lebens durch die Infektion oder der finanziellen und gesellschaftlichen Lebensgrundlage – fordert uns bis in die Grundfesten unseres Seins. In meinen Augen ist das, was gerade an Spaltung in unserer Gesellschaft zu sehen ist, nicht in erster Linie Ausdruck mangelnder intellektueller Kompetenz, sondern fehlender Fähigkeit der Angstregulation in komplexen Situationen. Der Intellekt kann dabei zwar helfen, aber wenn die Angst zu groß wird, lässt sie die Wahrnehmung selektiv werden und blockiert die Denkfähigkeit. Dann hilft auch Bildung nicht mehr weiter, weil das Großhirn viel zu langsam ist im Vergleich zum viel älteren Säugetiergehirn. Wenn wir existenzielle Angst haben und keinen Ausweg sehen, fangen wir an, Schuldige zu suchen und sie zu attackieren, in der Hoffnung, dann wären wir den Angreifer los. Tatsächlich erschafft unsere traumatische Angst ihn immer wieder aufs Neue. Die kollektive Aufgabe „Corona“ ist nach der Klimakatastrophe, der Flüchtlings-Problematik und der weltweiten Zunahme populistischer Strömungen die vierte massive Konfrontation mit den kollektiven Folgen verdrängter Traumatisierungen.

Sie sind Expertin für psychosomatische, Schmerz- und Trauma-Patienten. Wie war Ihr Entwicklungsweg?

Mein Leben ist von Anfang an von der Suche nach Verbindung von (scheinbaren) Gegensätzen geprägt: von Körper (Geist) und Seele, Konflikt und Trauma, Psychologie und Pädagogik, Psychotherapie und Coaching, Wissenschaft und Spiritualität. Meine Ausbildung begann zwei Jahre bevor ich in die Schule kam. Im Alter von vier Jahren entwickelte ich eine starke Neurodermitis, die mich bis weit ins Erwachsenenalter hartnäckig begleitete. Weil meine Mutter sich dankenswerterweise zu Gunsten alternativer Heilmethoden gegen die schulmedizinische Behandlung mit Cortison entschied, wurde mein eigener Körper mir sehr früh im Leben ein Seismograf für mein Befinden – Ausdruck einer Stimme ohne Worte in mir, die ich unbedingt verstehen wollte. Nach dem Abitur studierte ich Psychologie mit dem Schwerpunkt Psychosomatik. Unmittelbar im Anschluss ans Studium entdeckte ich mit den Büchern von Tilmann Moser die psychoanalytisch fundierte Körpertherapie (PfKT). Mein Traum war es, Psychoanalytikerin zu werden, um bis in die Tiefe zu verstehen. Ich inhalierte die PfKT durch Lektüre und Fortbildungen und bekam parallel dazu zwei Söhne, die wichtige Lehrer für mich wurden: darin, was zu einem entwicklungsförderlichen Umfeld gehört. So wurde ich sensibel für Facetten struktureller Gewalt in unserer Geburtskultur und im Schulsystem, entschied mich für Hausgeburten und gründete mit anderen zusammen eine Schule. Mit der Entdeckung der Gewaltfreien Kommunikation erkannte ich unsere Sprache als weiteres Symptom struktureller Gewalt fand ein weiteres zentrales Puzzleteil für meine Entwicklung. Dann begann ich das Studium der Psychoanalyse, glücklicherweise vorgeprägt durch den absolut unkonventionellen Ansatz, der den Körper und Berührung integriert. Ein paar Jahre baute ich eine Station für Psychotherapie und Psychosomatik mit integrativem Ansatz mit auf und wurde dort schnell zur Spezialistin für psychosomatische, Schmerz- und Trauma-Patienten. Seit dem Abschluss meines Psychoanalysestudiums mit Approbation bin ich in eigener Praxis im medizinischen Versorgungssystem, aus der ich jetzt – für mich selbst überraschend – nach wenigen Jahren schon wieder aussteige. 

Was hat dazu geführt?

Kurze Zeit nach meiner Approbation lernte ich meinen jetzigen Mann kennen, und unser rasanter gemeinsamer Entwicklungsprozess hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die erste Erfahrung tiefer Liebe und bedingungsloser gegenseitiger Annahme machte es plötzlich möglich, auf dem Boden dieser Sicherheit in die letzten und tiefsten Abgründe zu schauen und sie zu heilen. Auf dem Feld sexueller Forschung, auf dem wir uns im tiefsten Sinne nackt begegnen, sind wir mit dem Einstieg durch Slow Sex quasi unwissend in das kollektive sexuelle Trauma mitten hineingesprungen und haben es kennengelernt. Slow Sex ist quasi der Prozess, alle Grundpfeiler dessen, was wir kulturell über Sex gelernt haben, kurzerhand auszuhebeln, um uns selbst und einander dahinter erst wirklich begegnen zu können. Auf dem Boden unseres frühen Verpflichtung zu radikaler Offenheit und einer darauf gewachsenen hohen Kompetenz, über schwierigste Dinge einigermaßen entspannt, friedlich und respektvoll zu sprechen, konnten wir uns quasi dabei zusehen, wie alle Schutzschichten von nicht einmal unbedingt bewusst Unechtem, von gegenseitiger Schonung, Anpassung um des lieben Friedens willen, immer mehr von uns abfielen.

Je mehr ich Geschmack finde an der gefahrlosen Erfahrung von Sichtbarkeit, desto weniger will ich noch etwas anderes. Im Gegenteil: Ich möchte in immer mehr Facetten dessen, was ich liebe und was mir wichtig ist, sichtbar werden. Und ich bin zunehmend bereit, dafür die volle Verantwortung zu übernehmen – selbst wenn mein Mann an irgendeiner Stelle nicht mehr mitkommt. Ein Teil dessen, was sichtbar werden will, ist meine Art der Arbeit, auf die ich so stolz bin – umso mehr, je mehr sie sich in Richtung der Einbeziehung kollektiver Trauma-Heilung erweitert –, die ich aber im Kassensystem quasi „undercover“ machen müsste, um sie finanziert zu bekommen. Was für mich selbst eine im tiefsten Sinne psychoanalytische Arbeit ist (die halt nur vor dem bis heute tradierten Tabu von Berührung nicht Halt macht, das ich als so unnötig einschränkend und schädlich empfinde), ist von unserem Kassensystem nicht gewollt und mitgetragen. Das war der zunehmende Schub von hinten. Was von vorn zieht, ist die immer stärker empfundene auch gesellschaftliche Verantwortung, mein Potential mehr Menschen zugänglich zu machen. Immer deutlicher sehe ich auch die konventionelle Psychoanalyse als Symptom unserer kulturellen Machtstrukturen. Ein Wissender hat die letzte Deutungsmacht darüber, wie und was ein anderer Mensch wirklich ist: Was krank und zu verändern ist und was nicht. Das gesellschaftliche Subsystem Psychoanalyse war ursprünglich zwar mit dem Fokus auf Sexualität als subversive Unterwanderung religiöser Einengung geplant, hat sich selbst aber trotz genau dieses eigenen Anspruchs bis heute nicht annähernd weit genug reflektiert, als dass es die systemimmanenten Parallelen zum Machtsystem Religion erkannt und aufgelöst hätte. Wenn ich eine andere, nicht mehr funktionalisierende, entmenschlichende Kultur haben will, muss ich aber genau das tun: Kraft meiner Fähigkeit zu reflektieren aus der Box der kulturellen Matrix herausfinden. Es gibt zwar innerhalb der Psychoanalyse Strömungen, die weniger hierarchisch sind, mehr intersubjektiv, aber solange wir das in diesem System tun, tragen, stützen und erhalten wir das System am Leben. So wie auch der Nationalsozialismus nur möglich war, weil sich so viele Menschen aus Angst nicht positioniert haben und als große Masse von Mitläufern diese kollektive Katastrophe erst möglich gemacht haben. Die kollektive Konfrontation mit unseren Schatten zwingt uns heute, von Mitläufern zu aktiv positionierten Gestaltern zu werden.

Entspricht Ihr Beruf auch Ihrer Berufung?

Absolut! Ich habe mir mit meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin einen uralten Traum erfüllt – um zu merken, dass er nur der Auftakt zu etwas noch viel Größerem war. Ich kann und will nicht mehr in dem so begrenzten Wirkraum meiner Praxis unsichtbar bleiben, sondern das, was in unserem System ohnehin nicht psychotherapierichtlinienkonform ist, mehr Menschen zur Verfügung stellen. Mir geht es darum, mit meinem lebenslang gesammelten Forschungswissen zu kollektiver sexueller Trauma-Heilung und einer neuen Liebes- und Berührungskultur beizutragen, die in meinen Augen dringend notwendig ist, wenn wir als Menschheit überleben wollen. In meiner täglichen nahen Begegnung mit Körpern (meinem und anderen) bin ich unmittelbar mit Trauma in Berührung. Wenn ich Körper berühre, berühre ich Trauma – all das Sprachlose, tief Verdrängte, Unbewusste, das uns permanent unbemerkt begrenzt. Die Integration und Verlebendigung der beiden existenziellen Säulen unserer Lebensenergie (Aggression im neutralen Sinne als Ausdruck primären Lebenswillens und Sexualität als lebenserschaffende kreative Lustkraft) in ihrer kulturell verkrüppelten Ausprägung sind dabei zentrale Momente meines Heilungsanliegens geworden.   

Ich liebe meine Arbeit, weil sie auf wunderbare Weise alle Teile meines Selbst anspricht, fordert und integriert: Meine Lust an Verbindung zu emotional-lebendiger Innenwelt, meine Leidenschaft am klugen und integrierenden Denken sowie meine künstlerisch-kreative Seite: Therapie ist immer eine Kunst, die Gestalt zwischen Menschen in einem Moment zu erfassen und auf kreative Weise erlebbar und zugänglich zu machen. Jetzt kommt tatsächlich auch meine Lust am Sichtbarsein und Lehren dazu

Was mich ausmacht, ist sicher als Allererstes mein Mut – von dem ich erst nach und nach begriffen habe, dass ich davon im Vergleich zu vielen anderen Menschen besonders viel habe. Außerdem meine tiefe Liebe zu Wahrh(aftigk)eit, die immer schon stärker war als die Angst, und zu Vollständigkeit. Ich habe eine echte Fake-Allergie: eine körperliche Aversion, sobald ich merke, dass Teile der Wahrheit fehlen oder sogar mehr oder weniger bewusst unterschlagen werden. Meine rebellische Lust an der Ausdehnung von vermeintlichen Grenzen und an der Integration von Gegensätzen in einer größeren Wahrheit. Ich liebe den Titel eines wunderbaren Buches des bekannten Paartherapeuten Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit (und ich ergänze innerlich immer: …und sie wird immer vollständiger, mit je mehr Menschen wir uns empathisch verbinden). Wahrscheinlich ist deshalb eins meiner Lieblingsworte das Wort „gleichzeitig“. Eine andere wichtige Facette ist meine Liebe zum Denken und zu schöner Sprache. Es beglückt mich zutiefst, wenn es mir gelingt, komplexe innere Prozesse und Gedanken mit einer Sprache, die gleichermaßen intellektuell, emotional und bildhaft-poetisch ist, differenziert und möglichst genau zum Ausdruck zu bringen – am besten so, dass jemand anders sich gut damit verbinden kann. Die Verbindung von dieser Art von integriertem Denken, Sprache und der uralten Weisheit des Körpers ist für mich der Weg in eine neue ekstatische Kultur, in der wir nicht mehr an Leiden orientiert sind (und daraus lernen), sondern an Lust und Freude – eine Gesellschaft, in der es keine Therapie mehr braucht, weil wir nicht mehr gegen uns selbst und andere, gegen das eigene und das andere Geschlecht diesen unendlich tragischen Kampf kämpfen müssen, in dem es keine Gewinner, nur Verlierer gibt.  

Welche neuen Ansätze haben Sie entwickelt?

Diese potenzierte Kraft aus der Tiefenschärfe moderner Psychoanalyse, Bindungsforschung und Trauma-Wissen auf der einen Seite sowie der Einfachheit und Wirkmacht des Körpers in der Berührung auf der anderen Seite ist ein enorm machtvolles Handwerkszeug für Trauma-Heilung und Veränderung, weil es sich von zwei Seiten gleichzeitig dem Kern nähert.

Durch meinen eigenen Entwicklungsprozess mit meinem zweiten Ehemann hat sich meine ganze körpertherapeutische Erfahrung auch auf den intimsten Raum ausgedehnt. Zum ersten Mal erlebe ich in der Partnerschaft gemeinsame Cokreation: Aus der Entdeckung von Slow Sex wurde ein sich bis heute unendlich weiter ausdehnender intimer Forschungsprozess, der uns immer mehr mit uns selbst, miteinander und mit anderen Menschen verbunden hat. Damit verändert sich auch meine Arbeit auf eine Weise, die immer noch weniger mit der kulturell bedingten Gespaltenheit unseres medizinischen Versorgungssystems vereinbar ist. Die Grenze zu Nacktheit in heilsamer Berührung hat zwar wichtige Facetten in unserer Kultur, wird aber, wenn sie bedacht sind, für mich immer willkürlicher und überflüssiger. In unserem System sind Körper und Sexualität stigmatisiert – gleichermaßen idealisiert wie tabuisiert, übersexualisiert und tabuisiert als zwei Seiten einer kranken Medaille – , weil wir uns in unserem kulturell verankerten Machtsystem nicht mit gesunden Grenzen und heilsamen Berührungen auskennen. Innerhalb dessen ist es berechtigt, aus dieser erlernten Unfähigkeit heraus der Grenze nicht zu nah zu kommen – aber wirkliche Heilung, die Erfahrung, in größter Nähe sicher zu sein, geschieht genau an dieser Grenze. Es ist möglich und unsere kollektive Aufgabe, vor der wir stehen, sie aus dem Stein zu hauen, ebenso wie eine Sprache dafür zu entwickeln, die keine Trauma-bedingten sprachlosen Löcher aus Angst, Scham und Schuldgefühl mehr hat, an denen wir in all unseren Beziehungen immer wieder scheitern. Ich trete an für eine ekstatisch-sinnliche Kultur der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens, in der Liebe und Sexualität keine Gegensätze mehr sind, sondern in einer schamfreien und intimen Begegnung zusammenfinden. Mit Intimität meine ich hier nichts im engeren Sinne Sexuelles, sondern das Wagnis der Wahrhaftigkeit.

Welchen Mehrwert bekommen Ihre Klienten von Ihnen?

Mit meinem oben beschriebenen Handwerkszeug helfe ich mutigen Menschen auf dem kürzesten Weg aus einem tragisch unerfüllten (Beziehungs-)Leben hinein in ein ekstatisches Leben mit erfüllender Intimität mit sich selbst und anderen. So können sie Teil der neuen lebensdienlichen Kultur jenseits von Machtstrukturen werden, in der wir einander wahrhaftig begegnen, uns darin angenommen erleben und aus der Fülle heraus (statt um eigenen Mangel zu kompensieren) auch gern noch um andere kümmern.      

In den Seminaren und Kursen, die ich live und online anbiete, habe ich mein erweitertes einzeltherapeutisches Handwerkszeug auf Gruppen übersetzt und mache es so großflächig zugänglich und erschwinglich. Die Einbeziehung des Körpers und von Berührung ermöglicht tiefgreifende Entwicklung in relativ gesehen sehr kurzer Zeit, ohne dass sie nur oberflächlich auf brüchigem Grund bleiben. Es ist eine lust- und freudvolle ebenso wie ressourcenorientierte Art, sich den eigenen biografischen und kollektiven Abgründen zu nähern. Jeder Schritt weitet unseren Raum nicht nur für das Dunkle, sondern gleichzeitig für Lebendigkeit und Ekstase – die Voraussetzung für friedliche Existenz.    

Welche Vision möchten Sie verwirklichen?

Ich versuche, meine Kraft nicht im Kampf gegen das Bestehende zu erschöpfen, sondern sie mit der Kraft anderer mutiger Menschen mit derselben Vision zusammenzutun und so leichter neue Strukturen außerhalb der alten zu schaffen, die die alten mit der Zeit ablösen, weil sie einfach lebensdienlicher sind. Was für einen Menschen allein unmöglich ist, ist in Gemeinschaft zumindest möglich, und je größer die Gemeinschaft ist, desto leichter wird es. Ich möchte Keimzellen von Gemeinschaft entstehen lassen, in denen wir mutig gemeinsam das Wagnis der Offenheit mit allem, auch dem Wagnis der Berührbarkeit und Verletzlichkeit eingehen, um uns erst dann immer besser ineinander erkennen zu können. Das geht per definitionem nicht allein und ist die Voraussetzung für wirkliche Empathie, die uns in unserer Kultur systematisch abtrainiert wurde und die wir nun mühsam wieder lernen dürfen. Im Kern geht es glaube ich darum, nur zu etwas Ursprünglichem und Gesundem zurückzukehren – gleichzeitig aber historisch, kulturell und kollektiv betrachtet etwas völlig Neues zu erschaffen: Nach Matriarchat, Patriarchat, Sozialismus und Kapitalismus, Frauenbewegung und Emanzipation den weiblichen und den männlichen Schmerz und unsere jeweilige Täterschaft darin anzuerkennen und so aus diesem ewigen Pendeln zwischen gegenteiligen Machtsystemen heraus in eine wirkliche Begegnung auf Augen- und Herzhöhe zu finden, und in der ich nicht nur auf Kosten von anderen meine Existenzberechtigung als Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen erhalten kann, sondern wo wir alle gleichzeitig unsere menschlichen Bedürfnisse aufs Beste erfüllt bekommen können. Das ist eigentlich gar nicht so schwer, weil wir diese Bedürfnisse mit allen anderen Menschen teilen. Wir alle wollen einfach nur gesehen, in unserem Sein gewollt und angenommen sein, in unseren Gefühlen und Bedürfnissen berücksichtigt werden und unser Leben selbst daran entlang gestalten. Wenn das geht, sind wir zutiefst liebevolle und friedliche Wesen. Der Kompromiss ist in unserem bestehenden System so ziemlich das Beste, was wir haben – wenn jeder sich nur ein bisschen zurücknimmt für den anderen. Wir sind schlicht und einfach kollektiv noch nicht darauf kommen, dass es letztlich immer möglich ist, in konkreten Situationen Strategien zu finden, die die Bedürfnisse aller Beteiligten aufs Beste erfüllen. Das habe ich in unzähligen Situationen erleben können. So findet sich im Allerkleinsten – auf der physischen Ebene des Körpers – das Gesetz des Lebens, dass Gesundheit die organische Zusammenarbeit aller Teile ist, ohne dass Teile ausgeschlossen, ignoriert, missachtet oder unterdrückt werden, die sich ebenso im Allergrößten, im Kollektiven, spiegeln. Wenn wir es schaffen, durch das widersprüchliche Abbild unserer Kultur (in Form von Symptomen oder Schmerzen) in unserem Körper hindurch zu tauchen zur weisen Stimme der Selbstfürsorge, dann gibt es im Körper keine Widersprüche mehr. Dort ist immer nur eine Wahrheit zurzeit – und die ist lebensdienlich. Nur im Kopf, ohne den Anker im Körper, gibt es immer gegensätzliche Wahrheiten und die jeweiligen Argumente.

Welche Methoden bieten Sie dafür an?

Mein Methodenspektrum ist sehr groß und kommt aus den unterschiedlichsten Richtungen, z.B. außer Psychoanalyse und Körpertraumatherapie Somatic Experiencing, Trauma Releasing Exercises, Ego States Therapie, Aufstellungsarbeit, Gewaltfreie Kommunikation, Tantra, Slow Sex, Energiearbeit und vieles mehr. Alles auf meine persönliche Weise zusammengestellt in der unbedingten Suche nach der jeweiligen ureigenen Lebensbewegung und einer lebensdienlichen und heilsamen körperlichen Mitbewegung. Ein Schlagwort in unserem Schulkonzept damals war es, Lebensprozesse zu respektieren und zu unterstützen. 

Neben Einzelarbeit live im kontinuierlichen Prozess oder in Intensiv-Wochenenden oder geschlechtsspezifischen Trauma-Kleingruppen, entstehen aktuell erste Online-Angebote für Einzelne und Paare zu den Themen Selbstregulation und Selbstliebe, Partnerschaft als sicherer Raum des Vertrauens, Sexualität jenseits der kulturellen Matrix und Wurzeln der Ekstase, ein geplanter Jahreskurs für Bindungsfähigkeit und Urvertrauen sowie das groß angelegte kulturelle Projekt Vertrauensraum.  

Was bedeutet „Vertrauensraum als kulturelles Projekt“?

Hier üben wir im Moment aufrichtig über unser Erleben und unsere Erfahrungen in Liebe, Begehren und Intimität zu sprechen, uns wirklich nackt zu machen und damit in diesem riesigen sprachlosen Raum Worte zu finden und Trauma auch auf dieser letzten sprachlichen Ebene zu heilen. Was sprachlos ist, kann sich nicht verändern. Wir erkennen uns zutiefst als zwei Seiten einer Medaille: Männer und Frauen mit ihren spezifischen doppelten Botschaften und dem Gefühl, einfach im Kern falsch zu sein, als Täter und Opfer zugleich. Dann können wir aufhören, diesen uralten erbitterten Kampf gegeneinander zu kämpfen. Der Vertrauensraum für Männer und Frauen ist zwar als letztlich stabile Gruppe geplant, ist aber bewusst nicht geschlossen, sondern öffnet alle drei Monate die Tore für neue Mutige, denn die Keimzelle soll ja immer größer werden.

Kulturell sind wir so aufgestellt, dass wir denken, über das Intimste nur mit den allerengsten Vertrauten sprechen zu können. Tatsächlich erscheinen uns diese Themen und Probleme fälschlicherweise als individuell, obwohl sie uns alle betreffen, weil sie kulturell bedingt normal sind. Sie sind viel zu universell, um sie allein lösen zu können – das ist eine massive Überforderung für uns als Menschen und Paare. Wenn wir aus diesem Wissen heraus anfangen, aufrichtig darüber zu sprechen, können wir Solidarität, Verständnis und Unterstützung erfahren, und endlich aufhören, uns zu schämen. Scham hat mit der Angst vor Entdecktwerden zu tun und wird zum Glück (nur ein wenig versetzt) fast unmittelbar kleiner, wenn wir uns selbst sichtbar machen. Dann brauchen wir keine Entdeckung mehr zu fürchten.   

Momentan arbeiten Sie an einem Buchprojekt? Worum geht es dabei?

Es ist ein gemeinsames Buch mit meinem Mann Reiner über unseren gemeinsamen Entwicklungsprozess. Je mehr wir in unserem Umfeld davon erzählten, desto häufiger trafen wir auf große staunende Augen und die Aussage, wir hätten so viel Mut, über diese Dinge nicht nur offen, sondern auch konkret zu sprechen – und so viele Worte, in denen sich andere erkennen und lernen können. Wir haben es als Buch zur Paararbeit konzipiert und zu einem gemeinsam erarbeiteten Inhaltsverzeichnis unabhängig voneinander jeder unsere Version geschrieben, damit die Unterschiedlichkeit und Komplementarität männlichen und weiblichen Erlebens darin sichtbar werden in all ihrem Potential zu rasanter cokreativer Entwicklung.

Wird es aus Ihrer Sicht durch Corona große Veränderungen geben, eventuell einen Paradigmenwechsel?

In meinen Augen sind wir gefordert, uns aus alten Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind, herauszuschälen und Dinge in eine für alle lebensdienliche und damit nachhaltige Richtung zu verändern: Dank Internet auf unnötige Mobilität zu verzichten und damit die Umwelt zu entlasten, für unsere eigenen Gefühle Verantwortung zu übernehmen, unser gegenseitiges Angewiesensein aufeinander fürs Überleben zu realisieren, immer wieder neu flexibel Schutzmaßnahmen in ihrem Potential gegen ihre Schattenseite abzuwägen, gleichzeitig Täter und Opfer in uns zu erkennen und zu integrieren, uns hinter so viel virtueller Vereinzelung und kompensatorischem Konsum wieder an unsere ursprünglichen menschlichen Bedürfnisse zu erinnern und sie bewusster und empathischer mit uns selbst und anderen zu verfolgen. Dann können aus kulturell bedingtem Selbsthass Selbstliebe, Vertrauen und Liebe werden.   

Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Individuell und kollektiv?

Für mich selbst wünsche ich mir immer mehr Ausdehnung in Sichtbarkeit, Fülle und Ekstase hinein. Ich möchte mit meinen ganzen Begabungen und Fähigkeiten einen großen und wichtigen Beitrag zum Frieden leisten. Dazu wünsche ich mir, eine immer größere Gemeinschaft von Mutigen um mich zu versammeln, die sich dasselbe wünschen, die von mir profitieren können und mit denen ich gemeinsam immer mehr cokreieren kann. Was für ein Glück, dass dafür zwar kollektiv immer noch so wenige, aber absolut doch schon so viele antreten! Denn das ist mein Wunsch für uns alle: Als Menschheit nicht nur trotz materiellem Überfluss im Gefühl des Mangels zu überleben – dazu ist das Leben echt zu kurz und das wird auch nicht klappen – sondern uns vom Lernen aus Leiden zum Lernen für mehr Lust und Freude zu bewegen. Ich möchte, dass wir alle – und zwar nicht mehr auf Kosten anderer – glücklich, erfüllt und ekstatisch in Fülle leben können. Und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es möglich ist, wenn wir aufhören, es als Utopie abzutun. Es sind nur unendlich viele kleine, aber durchaus machbare Schritte, die uns von dieser Utopie trennen – aber wo auch immer wir sie als Utopie bei Seite legen, gehen wir die Schritte nicht mehr. In meinen Behandlungen, meinen Freundschaften, meiner Ehe und im Vertrauensraum erlebe ich, dass es durchaus machbar ist, es real werden zu lassen.

Wenn Sie Ihre Botschaft in einem Satz zusammenfassen solltest – wie lautet er?

Wage todesmutig radikale Offenheit, Verletzlichkeit und Konfrontation mit Trauma in Form von Angst, Scham und Schuldgefühl. Wage es, zu lieben – weil es keine lebensdienliche Alternative mehr gibt.

Interview: Barbara Altherr

Fotos: Daniela Reske, Reiner Sogl

Ein Kommentar zu “Corona erfordert die emotionale Selbstregulation von Angst und Wut

  1. Liebe Christina,

    wow, toller Artikel. Teilweise fand ich ihn sehr anspruchsvoll zu lesen. Beim Lesen über Deine sexuelle Entwicklung und den dazugehörigen Mut wurde mir richtig heiß. Da kam wohl Angst hoch bei der Erinnerung an Situationen, wo klare Worte angemessen gewesen wären. In der Hinsicht habe ich mich sehr zurückgenommen. Dass Ihr Euch zu radikaler Offenheit verpflichtet habt, hat mich sehr berührt. Und dieses Sichtbarwerden trotz Scham und Angst spricht mich sehr an.

    Liebe Grüße

    Birge

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